DER GEIST DER DEMOKRATIE. VOM STUDENTENHAUS ZUM OFFENEN HAUS DER KULTUREN
Von Tim Schuster
Die wenigsten Ausstellungen haben einen wirklichen Bezug zu dem Ort, an dem sie gezeigt werden. Denn schließlich ist es ja gerade die Qualität eines White Cube, die nötige Neutralität bereitzustellen, vor der die gezeigte Kunst sich abheben kann. Anders verhält es sich bei der Ausstellung Kunst der Revolte // Revolte der Kunst. Sie war ortsspezifisch in einem sehr konkreten Sinn. Dass sie im Studierendenhaus stattfand, war nicht nur ein Glücksfall, sondern beinahe eine Notwendigkeit, denn die hier gezeigten Arbeiten hatten alle einen direkten oder indirekten Bezug zu diesem Haus. Manche Arbeit ist hier entstanden oder hat hier stattgefunden, alle aber entstammen doch zumindest einem Umfeld, in dem das Haus eine zentrale Rolle spielte.
Doch was ist das eigentlich für ein merkwürdiges Haus? Woher kommt seine Wirkung als Kraftzentrum für die unterschiedlichsten in der Ausstellung vorgestellten Initiativen – und für vieles spätere bis in die Gegenwart hinein? Seit 66 Jahren steht dieses Haus nun auf dem alten Universitätscampus in Bockenheim. Was die sich über einen solch langen Zeitraum einschleichende Gewohnheit und das jeweilige Tagesgeschehen leicht vergessen lassen: das Studierendenhaus ist ein sehr unwahrscheinlicher Ort. Über die wechselvollen Zeiten hinweg ist es ein Hort der kritischen Auseinandersetzung mit dem Bestehenden und der utopischen Praxis einer anderen Gesellschaft geblieben. Als solches hat es die Frankfurter Geschichte geprägt wie wenige andere Gebäude.

Die Errichtung des Studentenhauses war unmittelbar mit der Erfahrung von Diktatur und Krieg verbunden. Im Rückblick ist es nicht nur ein Meilenstein in der Redemokratisierung der Hochschule, sondern steht symbolisch für die Rückkehr der Frankfurter Schule aus dem Exil und die damit verbundenen emanzipatorischen Bestrebungen. Denn auch wenn Max Horkheimer nicht, wie es manchmal irrtümlich kolportiert wird, der Initiator des Projektes war, so fällt die Eröffnung des Hauses 1953 doch nicht zufällig in die Zeit seines zweijährigen Rektorats an der Frankfurter Universität. Die exilierten Wissenschaftler des Instituts für Sozialforschung um Horkheimer und Adorno hatten zuvor lange gezögert nach Deutschland zurückzukommen – in das Land, aus dem sie, weil sie Juden und weil sie Marxisten waren, vertrieben worden waren, und in dem es in der unmittelbaren Nachkriegszeit von eher schlecht als recht getarnten Nazis gewimmelt haben muss. Wenn sie doch zurückgekommen sind, dann mit dem klaren Willen und der vagen Hoffnung, dieses Land auf lange Sicht zu verändern. So schreibt Horkheimer 1947 an John Slawson, den geschäftsführenden Vizepräsidenten des American Jewish Committee: „Nur wenn eine echte Möglichkeit besteht, wenigstens einen Teil der neuen Generation, die künftig die Politik und Kultur des Landes prägen wird, für jene Werte zu gewinnen, die von Nazi-Deutschland weltweit vernichtet werden sollten, haben verantwortliche akademische Lehrer in Deutschland eine Aufgabe.“[1]
Dass sie diese Möglichkeit alleine durch das Ende der Naziherrschaft nicht als bereits gegeben ansahen, zeigt der Briefwechsel von Horkheimer und Adorno aus dieser Zeit[2]. Beide waren sich durchaus bewusst, dass die formale Existenz eines demokratischen Staates noch lange keine Demokratie ausmachte, sondern dass Demokratie nur in einer sich immer wieder neu vollziehenden aktiven Praxis bestehen könne. Doch eine solche demokratisierende Praxis brauchte, das war für die im historischen Materialismus geschulten Denker klar, zuallererst materielle Grundlagen. Und das Studentenhaus sollte eine solche neu zu schaffende Grundlage sein.
In seiner Eröffnungsrede vom 21. Februar 1953 widmet Horkheimer den Neubau „der Erziehung einer akademischen Jugend, die sich nicht bloß wissenschaftliche Verfahrensweisen aneignet, sondern die zugleich den Umgang mit Menschen anderer Nationen, Religionen und Rassen (sic!), freiwillige Hingabe an soziale, künstlerische, sportliche Tätigkeiten, Liebe zum Denken und Forschen, zum Diskutieren, zur kreativen Muse, kurz die den Geist der realen und tätigen Demokratie praktiziert“.[3] Dieser an Solidarität, unabhängiges Denken und das Bedürfnis nach Freiheit gekoppelte demokratische Geist bedürfe „der Übung und der Gelegenheit, des Beispiels und des Umgangs.“

Dies waren, trotz der zeittypisch etwas blumigen Sprache, nicht einfach nur nette Worte aus gegebenem Anlass, zu dem neben dem Bundespräsidenten Theodor Heuss auch der – zu diesem Zeitpunkt ungleich einflussreichere – amerikanische Hochkommissar John J. McCloy erschienen war, sondern ein durchaus ernst gemeintes Signal. Denn das Haus sollte keinesfalls, wie es die meisten Hochschulrektoren heute vermutlich betrachten würden, eine studentische Nische am Rande des eigentlichen Hochschulbetriebs werden. Im Gegenteil: „Wie unendlich klein auch das Ausmaß dieses Hauses im Hinblick auf so hochgesteckte Ziele erscheint, die Wirkung dieser Zelle wird sich aufs Ganze der Universität und weiterhin erstrecken, es wird ihr Zentrum werden.“
Dieser hohe Anspruch scheint sich in den folgenden Jahrzehnten in mancherlei Hinsicht eingelöst zu haben. Wie sehr einzelne Organe, Initiativen und Projekte aus diesem Haus heraus gewirkt haben, nicht nur in die Universität, sondern auch in die Stadt Frankfurt und die ganze Bundesrepublik hinein, davon erzählt die Ausstellung Kunst der Revolte // Revolte der Kunst ebenso wie der vorliegende Katalog. Einige kurze Schlaglichter: Da gab es seit den 50er Jahren den Diskus, eine der fortschrittlichsten Zeitschriften der jungen Bundesrepublik, die deutlich über das studentische Milieu hinaus wirkte. Es gab die neue bühne, die weit mehr war als studentisches Laientheater, sondern als Avantgarde-Theater die Rolle einer damals noch nicht existierenden, experimentierfreudigen Freien Szene neben den Stadttheatern einnahm, aus der die wichtigsten neuen Impulse der Zeit kamen. Da gab es schon Anfang der 60er Jahre die Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld und früher als anderswo die Kritik am Krieg in Vietnam.
Und natürlich gab es die Student*innenbewegung von 1968, nicht zuletzt mit dem Tomatenwurf im Festsaal des Studierendenhauses, der für den Beginn der zweiten Frauenbewegung in Deutschland steht. In den 70er und 80er-Jahren trafen sich hier u.a. die Hausbesetzerszene, die Friedensbewegung und die Umweltbewegung, Anfang der 2000er-Jahre war das Studierendenhaus die bundesweite Schnittstelle der erfolgreichen Protestbewegung gegen die Studiengebühren, und beinahe selbstverständlich war es Anfang der 2010er Jahre auch das strategische Zentrum der Blockupy-Proteste. In den letzten Jahren schließlich fanden hier u.a. die Auseinandersetzung um ein Recht auf Stadt und für einen menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten ihren Raum. Und diese Liste ließe sich fortsetzen.

FREIRAUM FÜR EXPERIMENTE
Dass sich das Studierendenhaus über mehrere Generationen als derart produktiver Ort erwies, hat mehrere Gründe. Dazu gehört zunächst einmal die großzügige, ein wenig an ein Kloster erinnernde Architektur: Auf seinen breiten, um einen Innenhof gruppierten Fluren schienen Diskussion und Debatte offensichtlich bereits konzipiert zu sein. Und die Vielzahl an Räumen mit ganz unterschiedlichen Größen und Qualitäten, vom imposanten lichtdurchfluteten Festsaal über die Mensa, das spätere Café KoZ, bis zu den vielen variabel nutzbaren Clubräumen ließen die vielfältigsten Nutzungen zu, ohne sie bereits vorzuschreiben. Dazu kam die logistische, technische und finanzielle Ausstattung rund um den AStA, der zeitweise so etwas wie eine Art Mini-Konzern war, mit seinen über eigenen Etat verfügenden Referaten, einer Zeitschrift, einer eigenen Druckwerkstatt und einer hervorragenden Kino-Projektionstechnik, zu denen sich in Hochzeiten noch eine Autovermietung, ein Reisebüro, eine Arbeitsvermittlungsagentur und manches mehr gesellten.
Um die materielle Basis, von der über die Jahrzehnte auch viele nicht im engen Sinne studentische Initiativen und Projekte profitierten, war es also nicht schlecht bestellt. Entscheidend bei alledem war jedoch etwas, das Karlheinz Braun, der hier mit der neuen bühne agierte, noch im Rückblick spürbar begeistert beschreibt: „Wir konnten frei arbeiten hier, konnten frei experimentieren und hatten keinerlei Restriktionen. Ohne dieses Haus hätte das nicht stattgefunden.“[4] Dies klingt nicht nur wie ein spätes Echo auf Horkheimers Eröffnungsrede, sondern beschreibt offensichtlich auch die biographisch prägende Erfahrung eines Mannes, der später nicht zufällig zu den Begründern des selbstorganisierten Verlags der Autoren und der Mitbestimmung am legendären Theater am Turm und am Schauspiel Frankfurt wurde. Aus dieser Freiheit von Vorgaben und Hierarchien, die sich in vielfältigsten Strukturen der Selbstorganisation niederschlug, erwuchs ein unwahrscheinlich dichter sozialer Raum mit einer kaum überschaubaren Fülle an unterschiedlichen Praktiken, Anlässen und Aktivitäten.

EIN STUDIENORT FÜR DIE STADT VON MORGEN
66 Jahre nach seiner Eröffnung neigt sich die universitäre Nutzung des Studierendenhauses heute endgültig ihrem Ende entgegen. Doch das Haus selber ist noch lange nicht gewillt, in Rente zu gehen. Nachdem es vor einigen Jahren durch den Einsatz engagierter Bürger*innen seinem bereits geplanten Abriss entgangen ist, geht es derzeit seinem zweiten Leben entgegen, tritt also quasi in seine Zeit nach dem Studium ein. Darin könnte es zum Studienort für die ganze Stadtgesellschaft werden. Nachdem für 2021 vorgesehenen Freizug des Campus Bockenheim soll auf dessen Gelände der „Kulturcampus“ entstehen, ein „Zentrum der Künste“ mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst und mehreren Institutionen der Avantgarde-Kunst wie dem Ensemble Modern und der Hessischen Theaterakademie. In dessen Zentrum wird auch weiterhin das Studierendenhaus stehen – dann jedoch als Offenes Haus der Kulturen.
Dieses soll in vielerlei Hinsicht an die Tradition des Studentenhauses anknüpfen, sich dabei aber auch neu erfinden. Wenn man die Demokratie im Sinne Horkheimers und Adornos als eine niemals abgeschlossene Praxis versteht, dann könnte es die materielle Grundlage sein, um deren Geist in Auseinandersetzung mit den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen zu leben. Bereits heute zeigen sich konkrete Tendenzen seines zukünftigen Profils: So hat zum Beispiel die Einrichtung einer Notunterkunft für Geflüchtete auf dem brachliegenden Campus ab 2016 dazu geführt, dass sich in und um das Studierendenhaus ein breites Netz von Unterstützer*innen bildete, das Alt- und Neufrankfurter*innen zusammenbringt. Seitdem ist das Haus ein Ort des Ankommens für Menschen geworden, die aus Krieg und Verfolgung fliehen mussten. Eine Heimat für Menschen verschiedener Herkunft – wenn man unter Heimat einen Ort versteht, der sich aktiv gestalten lässt.
Mit der aktuellen Entwicklung knüpft das Haus also in gewisser Weise an seine Ursprünge als Ort der demokratischen Praxis und des Neuanfangs an. Als Offenes Haus der Kulturen wird es ein Ort bleiben an dem soziale, politische Akteure und Künstler*innen verschiedener Disziplinen, sowie Menschen unterschiedlicher Herkunft und Milieus in Austausch treten. Es bleibt ein Raum streitbaren gesellschaftlichen Denkens und Handelns, in dem stets neu verhandelt wird, was politischer und künstlerischer Ausdruck einer sich stark wandelnden (Stadt-) Gesellschaft, auf einem sich rasch verändernden Planeten ist. Als Labor einer demokratischen Gesellschaft, eines selbstbestimmten Miteinanders auf Augenhöhe, kann es neue Wege aufzeigen und wird sicherlich auch weiterhin ein wichtiger Schauplatz für Kunst und Revolte sein.

[1] Vgl. Wiggershaus, Rolf: Max Horkheimer. Begründer der „Frankfurter Schule“, 2014.
[2] Theodor W. Adorno/Max Horkheimer. Briefwechsel 1927-1969, Band III: 1945-1949 und Band IV: 1950-1969, hrsg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz; Vgl. Demirovic, Alex: Das Glück der Wahrheit. Die Rückkehr der „Frankfurter Schule“, in: Die Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte 36, 1989.
[3] Max Horkheimer, in: Einweihung des Studentenhauses. Ansprachen gehalten am 21. Febr. 1953 beim Akad. Festakt, 1953.
[4] Karlheinz Braun im Gespräch zur Performance Horkheimers Geist, einem Audiowalk im Studierendenhaus der Gruppe profikollektion, 2017.